Programmheft zu
Kreiten's Passion
Zur Erinnerung an das Schicksal von Karlrobert Kreiten komponierte der in England lebende niederländische Komponist Rudi Martinus van Dijk ein Werk für Bariton, Chor und Orchester mit dem Titel "Kreiten's Passion".
Das Werk wurde am 19. Sep. 2003 unter großer öffentlicher Anteilnahme in der Düsseldorfer "Tonhalle" uraufgeführt. Über Einzelheiten gibt das Programmheft Auskunft.
Rudi Martinus van Dijk:
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Nichts hat Deutschland und die_Deutschen derart einschneidend geprägt wie die nationalsozialistische Diktatur. Als Folgen von Hitlers menschenverachtender Willkürherrschaft kamen Krieg, Holocaust und unfassbares Leid in die Welt. Diese Vergangenheit ist ein für alle Deutschen gleichermaßen verpflichtendes Erbe. In seiner berühmten Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes betonte der damalige deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäker die herausragende Bedeutung von bewusster Erinnerung. Erinnern heiße, so von Weizsäker am 8. Mai 1985, "eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eiqenen Innern wird". Unabhägig davon, "ob schuldiq oder nicht, ob alt oder jung", müsse jeder Deutsche diese Vergangenheit annehmen, und nicht zuletzt verwies der Bundespräsident auf eine oft zitierte jüdische Weisheit, die von der Erinnerung als "Geheimnis der Erlösung" kündet. Zu den wichtigen Formen solcher bewusst machenden Erinnerungsarbeit zählt ohne Frage die künstlerische Reflexion - und das gilt insbesondere, wenn nationale Grenzen überschritten, wenn Dialoge eingeleitet werden. In den Niederlanden wäre beispielsweise die erschütternde Anne Frank Contoto ("A Child Of Liqht") von Hans Kox (1984) zu nennen. Heute, rund zwanzig Jahre später, ist ein neues Denkmal gelebter Erinnerung entstanden, und zwar in Kooperation zwischen einem niederländischen Komponisten und einem Autor aus Deutschland. Im Februar 2003 hat der in England lebende Komponist Rudi Martinus van Dijk ein großes Werk für Bariton, Chor und Orchester vollendet. Kreiten's Passion ist ein Kompositionsauftrag der Düsseldorfer Symphoniker, Thema die tragische Lebensgeschichte des deutschen Pianisten Karlrobert Kreiten. Der 1916 in Bonn geborene und in Düsseldorf aufgewachsene Künstler zeigte schon früh eine herausragende pianistische Begabung. Er studierte in Köln und Wien, um schließlich zu Claudio Arrau nach Berlin zu gehen. Im März 1943 äußerte Kreiten in pri- vatem Kreis schwere Bedenken gegenüber Hitler und bezeichnete den Krieg als praktisch verloren. Kreiten wurde denunziert, verhaftet und schließlich am 7. September l943 hingerichtet. Zu den engagierten Kennern, die seit Jahrzehnten die Erinnerung an Kreiten pflegen, zählt der Düsseldorfer Theaterwissenschaftler und Autor Heinrich Riemenschneider. Schon Ende der siebziger Jahre begab er sich auf Spurensuche nach Karlrobert Kreiten, und sein vielfältiges Wissen floss schließlich in sein Theaterstück Der Fall Karlrobert K. (1983). Doch Riemenschneider wünschte sich auch eine musikalische Umsetzung der historischen Materie, allein fehlte es ihm an einem geeigneten Komponisten. |
Rudi Martinus van Dijk (link) und Heinrich Riemenschneider |
Rund zwanzig Jahre sollten vergehen, bis er 2002 zufällig auf Rudi Martinus van Dijk stieß. Die beiden kreativen Köpfe trafen sich bei einer Trauerfeier, und in diesem Zusammenhang hörte Riemenschneider erstmals van Dijks Shadowmaker für Bariton und Orchester (1978). Riemenschneider war begeistert, seine Entscheidung klar: van Dijk war der ideale Komponist für die Vertonung von Kreitens Leidensgeschichte. Schnell wurden Gespräche aufgenommen, Ideen ausgetauscht. Pläne geschmiedet. Es ist vor allem der Tatkraft Riemenschneiders zu verdanken. dass die vage Idee letztlich in die Tat umgesetzt werden konnte. Er konnte die Intendantin der Tonhalle Düsseldorf, Vera van Hazebrouck überzeugen, van Dijk einen Kompositionsauftrag zu erteilen, er selbst schrieb das Libretto für Kreiten's Passion, und nicht zuletzt machte er sich erfolgreich auf die Suche nach Sponsoren. Die l40 Seiten starke Partitur fasst rund 50 Minuten ergreifende Musik. Das Stück beginnt mit einer Art Klavierkonzert, das den Pianisten Kreiten imaginär konzertierend darstellt. Brutal beendet ein Peitschenschlag die Episode, der Chor applaudiert. Ein klangliches Sinnbild für das definitive Ende von Kreitens pianistischer Karriere, aber auch für die drohende Denunziation und Inhaftierung. Die folgenden solistischen Bariton-Passagen enthalten Kreitens Worte und Gedanken, während der Chor in klassisch-griechischer Weise das Geschehen kommentiert. Sieben instrumentale Interludien unterbrechen die vokale Klangwelt, um jeweils den aktuellen Gemütszustand Kreitens musikalisch zu beschreiben. Das Ende von Kreiten's Passion wird markiert durch einen bemerkenswert ruhigen Choral, der für sich selbst spricht: "Bring mich vom Tod zum Leben, gib Frieden meiner Seel' die Wahrheit soll mich leiten, für jetzt und alle Zeit." Wenn van Dijk heute von seiner Arbeit an der Passion berichtet. dann wird die große Kraftanstrengung spürbar, die ihn das Komponieren gekostet hat. Der 71-jährige empfand den Auftrag als echte Herausforderung. Zwar habe sich - so van Dijk - das Werk letztlich von selbst geschrieben, aber zwischen Mai 2002 und Februar 2003 hat er sieben Tage in der Woche und sieben Stunden täglich am Schreibtisch verbringen müssen. Kompositorisch jedenfalls "past het werk in mijn muzikaal denken" - resümiert van Dijk, der Kreiten's Passion trotz aller internationalen Einflüsse als Werk eines niederländischen Komponisten bezeichnet. Den konzentrierten Umgang mit Rhythmus und eine erweiterte Tonalität kennzeichnet er als Charakteristika seiner kompositorischen Werkstatt. Gelebte Erinnerung, so zeigen der große Einsatz von Rudi Martinus van Dijk und von Heinrich Riemenschneider, ist tatsächlich mehr als moralische Pflichterüllung. Autor und Komponist haben Erinnerung auf eine je individuelIe Weise - und ganz im Sinne von Richard von Weizsäckers - "zu einem Teil des eigenen Innern" gemacht. Ihr grenzüberschreitender Beitrag an der Erinnerung an Kreiten ist ein Stück lebendige Verbindung mit der Vergangenheit, ein Mahnmal in der Gegenwart und zugleich ästhetischer Proviant für eine verantwortungsvollere, menschlichere Zukunft. Michael Arntz |