Der Verrat
Auf Anraten Furtwänglers verlegte Karlrobert Kreiten seinen Lebensmittelpunkt von Düsseldorf nach Berlin.
Seine Wohnadresse in Berlin war die Hohenstaufenstraße 36. Diese wurde jedoch im Laufe der Zeit zu klein, so daß er sie gegen eine größere umtauschen wollte. Als sich im Frühjahr 1943 ein solcher Tausch sich verwirklichen ließ, traf es sich, daß der Umzug in die Motzstraße 10 einige Tage vor seinem Klavierabend am 23.März 1943 im Beethoven-Saal erfolgen mußte.
So mußte es zunächst wie ein glücklicher Umstand scheinen, daß eine Freundin seiner Mutter, Frau Ellen Ott-Monecke, geb. Neumann ihm den Musik- und Übungsraum in ihrer Wohnung am Lützow-Ufer 1 zur Vorbereitung auf sein nächstes Konzert anbot. Vermutlich hatte Frau Ott-Monecke von Frau Emmy Kreiten, beide einst Gesangsschülerinnen am Saarbrücker Konservatorium, erfahren, daß sich Karlrobert auf sein nächstes Konzert vorbereiten mußte, gleichzeitig aber mit Schwester und Großmutter innerhalb Berlins einen Umzug zu bewältigen hatte und deshalb keinen Raum zum Üben hatte.
Das ruhige Musikzimmer bei der Freundin seiner Mutter war sicher eine Oase im Chaos von Einwickeln und Einpacken. (Und wieder war es eine mütterliche, kunstinteressierte Frau, die sich um Karlrobert Kreiten bemühte.)
Für sein Konzert übte er bei Frau Ott-Monecke Sonaten von Scarlatti und Mozart, sechs Etüden von Chopin (aus op. 10 Nr. 12, 8 und 2; aus op. 25 Nr. 7, 6 und 10), Liszts Spanische Rhapsodie und Beethovens F-Moll-Sonate op. 57, die Appassionata. In den Übungspausen unterhielt er sich mit seiner Gastgeberin.
Er hatte nicht gewußt, daß sie eine überzeugte Nationalsozialistin war, und gab der Versuchung nach, mit ihr über das Wesen des Nationalsozialismus, so wie er es sah, über Hitler und die Kriegslage zu reden.
Er sagte unter anderem: Hitler sei krank, und einem solchen Wahnsinnigen sei nun das deutsche Volk ausgeliefert! ... In zwei bis drei Monaten werde Revolution sein, und dann würden Hitler, Göring, Goebbels und Frick einen Kopf kürzer gemacht. Der Krieg sei praktisch verloren, was zum Untergang Deutschlands und seiner Kultur führen werde.
Spürte er überhaupt eine Gefahr, oder war es ihm selbstverständlich, im Bekanntenkreis offen zu reden?
Ellen Ott-Monecke war entsetzt und erzählte einer Hausnachbarin von diesen merkwürdigen Äußerungen. Diese Dame, Frau Ministerialrat Annemarie Windmöller, geb. Küstner, ebenfalls eine überzeugte Nationalsozialistin, war Schulungsleiterin und ließ in ihrem Parteifanatismus sogar die eigene Schwester beobachten.
Annemarie Windmöller war über das Gehörte sehr aufgebracht und besprach den Fall mit einer dritten Frau, Tiny von Passavant, geb. Debüser1), die mit ihr in der Frauenschaft arbeitete und der die Familie Kreiten bekannt war, weil sie selbst aus Düsseldorf stammte.
Diese beiden Frauen setzten ihr, wie Ellen Ott-Monecke später aussagte, die Pistole auf die Brust: Die Anzeige wurde von allen dreien Mitte März 1943, also eine Woche vor dem geplanten Konzert, bei der Reichsmusikkammer eingereicht.
Aber nichts passierte. Die Reichsmusikkammer hatte die Denunziation nicht weitergeleitet.
Karlrobert Kreiten übte ahnungslos Tag für Tag.
Das Konzert fand am 23. März 1943 statt. Der Pianist wurde vom Publikum begeistert gefeiert. Merkwürdigerweise berichtete aber am nächsten Tag nur eine Zeitung darüber. Es war, bis auf ein privates Konzert bei einem Berliner Kunstmaler ein paar Tage später, Kreitens letzter öffentlicher Auftritt.
Die Frauen warteten vergeblich auf seine Verhaftung.
Als sie sechs Wochen nach ihrer Anzeige, Ende April 1943, in der Zeitung lasen, daß Karlrobert Kreiten am 2. Mal 1943 zu einem Konzert nach Florenz verpflichtet sei, verloren sie die Geduld. Ihnen wurde klar, daß die Reichsmusikkammer ihre Anzeige hatte unter den Tisch fallen lassen. Sie erstatteten eine zweite Anzeige. Diese von Ellen Ott-Monecke ausgehende und von Annemarie Windmöller geschriebene Anzeige wurde von Tiny von Passavant an ihre frühere Dienststelle, das Propagandaministerium, geleitet und kam von dort zur Gestapo.
Karlrobert Kreiten besuchte zu dieser Zeit seine Eltern in Düsseldorf, machte mit einem befreundeten Mädchen einen Ausflug ins Siebengebirge und wartete auf das Visum für Italien.
Es wurde ihm nicht mehr erteilt.
Er schöpfte keinen Verdacht, denn die anderen Deutschen durften das Land auch nur in Ausnahmefällen verlassen. Und seine Altersgenossen waren alle im Krieg.
Schon vor der Einladung nach Florenz hatte er für den Mal 1943 eine Konzertreise im Inland geplant, die in Heidelberg beginnen sollte. Er fuhr also statt nach Florenz nach Heidelberg. Aber als das Publikum am 3. Mal in das seit langem ausverkaufte Konzert im Großen Universitätssaal kam, hing an der Eingangstür ein kleiner Zettel: »Kreiten-Konzert fällt aus.«
Die Gestapo hatte ihn morgens um 8 Uhr in seinem Heidelberger Hotel verhaftet 2).
Nach zwei Wochen wurde er ins Gestapo-Gefängnis nach Berlin gebracht und dort seiner Verräterin gegenübergestellt. Was mochte die Frau empfunden haben, als sie in das hungrige und zerschlagene Gesicht des Sohnes ihrer Freundin blickte?
(aus: Helga Schubert. Judasfrauen. dtv-Taschenbuch 1490, S. 88 - 90; Text stellenweise ergänzt)
1)Anfang der 1920er Jahre wurde Debüser als ausgezeichnete Sopranistin gefeiert, die sich insbesondere für moderne Musik einsetzte. Debüser war Mitbegründerin der „Kölner Gesellschaft für Neue Musik“. Bereits 1933 war sie eine überzeugte Nationalsozialistin, arbeitete in der „NS-Frauenschaft“ und war Mitglied des „Kampfbundes für deutsche Kultur“. Sie erhoffte sich damit einen Aufschwung ihrer Karriere, da ihre künstlerische Reputation in die Mittelmäßigkeit abzusinken drohte. Debüser war inzwischen neu verehelicht mit dem Produktionsleiter des „Goethe“-Films Hans von Passavant. Da ihr der Karriereschub mit Kunst allein nicht gelang, arbeitete sie zeitweise im Propagandaministerium. Zusammen mit zwei Nachbarinnen denunzierte sie 1943 den Pianisten Karlrobert Kreiten wegen abfälliger Äußerungen über den Nationalsozialismus. Nach Kriegsende behauptete sie, man habe sie dazu überredet. Kreitens Freundin erinnerte sich später jedoch, dass Debüser Kreitens Mutter, die ebenfalls Sängerin war, ihren Erfolg und von allem ihren Sohn neidete und die „Gelegenheit beim Schopfe (nahm), ihr eins zu verpassen.“ (aus Wikipedia)
2) Eine Cousine von Karlrobert Kreiten versichert, dieser sei eine dreiviertel Stunde vor Beginn des Konzerts verhaftet worden.